Das Internet ist ein
Glücksversprechen

"Real Virtuality" in der Galerie Simulakrum

VON ULRIKE TILL

MAINZ. Ein Bild aus 2500 anderen Bildern, kleinen Rechtecken von nicht mal halbem Postkartenformat: Garfield-Comics neben vollbusigen Pin-up-Girls, dazwischen lächelt würdevoll Captain Picard, der weiße Hai bleckt die Zähne. Eine Collage der am häufigsten abgerufenen "thump-nails", daumennagelgroßer Bildchen, die sich jeder aus dem Internet auf den heimischen Rechner laden kann. "Available", verfügbar, hat Horst Pietrek seine Arbeit in der Galerie Simulakrum lakonisch genannt.

Ganz buchstäblich führen die bedrohlich vielen bunten Kästchen dem Betrachter die ungeheure Bilderflut vor Augen, die das Netz zur Verfügung stellt - und fast alles entpuppt sich beim genauen Hinsehen als visueller Müll.

Die Folgen des Computers

Der kritische Blick auf die Folgen von Kommunikation per Computer verbindet die fünf Mitglieder der Gruppe "Link 42", die derzeit in der Galerie Simulakrum "Real Virtuality" vorführen.

Paradox wie der Titel ist der Ansatz der Ausstellung im Rahmen des Kultursommers. Denn einerseits warnen die Künstler vor den Gefahren globaler Vernetzung, prangern Cyberpornographie und Technikwahn an. Andererseits transportieren sie ihre Kritik mit den Mitteln des Internets, spielen selbst mit den Möglichkeiten des neuen Mediums. Eine riskante, aber lohnende Gratwanderung zwischen Ablehnung und Faszination, auf die sich die Besucher einlassen müssen.

Alexander Urban treibt dieses doppelte Spiel am weitesten. Porno-Darstellungen aus dem Internet hat er so retuschiert, daß nichts Obszönes mehr zu sehen ist; nur die Konturen lassen erahnen, was für Scheußlichkeiten einmal abgebildet waren. Die so verfremdete Sexgalerie ist nun unter "Alexander Urbans Pornos" wieder im Netz - als Köder für virtuelle Spanner, deren Gelüste bewußt enttäuscht werden.

"Das Internet ist ein großes Versprechen von Glück", erklärt Urban. "Aber es wird nie eingelöst."

Die Kehrseite des Glücksversprechens der Technik zeigt Renate Wolf in ihrem Zyklus "Goodbye Secretary": Im Mittelpunkt das immer gleiche Siebziger-Jahre-Foto einer Sekretärin am Schreibtisch, auf jedem Bild der Serie türmen sich mehr Monitore und Maschinen um sie herum - bis die Frau ganz verschwunden ist und ein Haufen Metallschrott ihren Platz einnimmt.

Mehr lustvoll als skeptisch experimentieren dagegen Jörg Oetken und Michael Mucha mit PC-und Videotechnik. Mucha schafft aus stark vergrößerten, computerbearbeiteten Ausschnitten von Naturaufnahmen dynamisch strukturierte Ovale mit dreidimensionaler Wirkung. Jörg Oetken zeigt die verblüffende Verwandlung eines filigranen Mobiles: Auf dem Bildschirm wirkt das eingespeiste Video wie ein gewaltiges Raumschiff, als Schattenriß an der Wand erinnert das Abbild desselben Objekts an ein flirrendes Spinnennetz.

Klar, daß die Ausstellung "Real Virtuality" nicht nur real, sondern auch virtuell besucht werden kann: Unter http://www.uni-mainz.de/~hpi/link42/ sind die Bilder im Internet gespeichert, zugleich ermöglichen ständig aktualisierte Kameraaufzeichnungen einen Blick in den Galerieraum - das real verarbeitete virtuelle Material ist wieder am Ausgangsort angekommen.

Õ Zu besichtigen noch bis zum 5. Oktober täglich von 16 bis 18 Uhr in der Galerie Simulakrum (Nackstraße 12 im Hof) oder im Internet-Café gleich darüber. Telefon 06131 / 604028.


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